Club of Rome Salon „Wellbeing Economy“ – mit Prof. Dr. Lorenzo Fioramonti (ehemaliger italienischer Bildungsminister, Autor und Professor für politische Ökonomie) und Petra Pinzler (Autorin und Korrespondentin, Die Zeit); begleitet und kommentiert durch die deutsche Popband Frida Gold

Aus dem Opera Court des Rocco Forte Hotel de Rome, Berlin
30. November 2020 – 19:00

Trailer (Englisch mit engl. Untertiteln): https://youtu.be/RCqbW9zK6K8

Komplette Aufzeichnung (Englisch, editiert): https://youtu.be/Hwl4g6i3t1Y

Rückblick von Michael Metzmaier:

Im Zentrum des Wellbeing-Ansatzes steht nichts Geringeres als die Transformation unseres Wirtschaftssystems: weg von einem Wirtschaftsmodell, das allein auf dem Wachstum einer Volkswirtschaft oder dem Umsatz eines Unternehmens basiert, hin zu einer ganzheitlicheren Betrachtung von Wohlstand. Die Integration von sozialen und ökologischen Belangen spielt dabei eine zentrale Rolle. Fortschritt – gemeinhin gleichgesetzt mit Wirtschaftswachstum oder technologischer Innovation – muss um weitere Elemente ergänzt werden. So führte Jörg Geier, Club-of-Rome-Mitglied, Programmdirektor und Beirat des Arts & Nature Social Club (ANSC), federführend ins Thema ein.

Wohlstand für alle und ein Leben im Einklang mit der Natur: Mancher hält es für fast unmöglich, diese zwei Utopien miteinander zu verbinden. Nicht so Johann Haehling von Lanzenauer. Der Gründer und Vorstandsvorsitzende des ANSC ist sich sicher, dass das individuelle Wohlbefinden und der Wohlstand einer Gesellschaft die Grundvoraussetzungen sind, um die bedrohten Ökosysteme zu retten und in Harmonie mit der Natur zu leben. In seinen einführenden Worten zum zweiten Club of Rome Salon des ANSC, der am 30. November im Opera Court des Berliner Hotel de Rome stattfand und weltweit gestreamt wurde, sieht Johann Haehling von Lanzenauer eine realistische Chance für diese Symbiose, deren Gelingen für ihn eine der Kernfragen unserer Zukunft ist.

Um mögliche Antworten und Lösungsansätze zu erörtern, waren zwei kompetente Gäste eingeladen:

Prof. Dr. Lorenzo Fioramonti übernahm Anfang September 2019 das Amt des italienischen Bildungsministers. Ein zentrales Thema zahlreicher Veröffentlichungen des Philosophen und Politikers ist die soziale Ungleichheit, die man seiner Meinung nach am effektivsten durch Bildung besiegen kann. Deshalb war es für Fioramonti nur konsequent, dass er bereits nach vier Monaten als Minister zurücktrat, da eine vom ihm geforderte Erhöhung des Bildungsetats vom italienischen Parlament nicht verabschiedet wurde. Dem italienischen Parlament bleibt er als Abgeordneter und kritischer Geist zu Wirtschaftsthemen weiterhin erhalten. Zudem ist Fioramonti Professor für politische Ökonomie und einer der bekanntesten Experten, was Forschung zum Thema Wellbeing-Economy angeht. Dazu hat er mehr als ein Dutzend Bücher, Berichte und Leitartikel in weltweit führenden Zeitungen veröffentlicht. Das Buch „Wellbeing Economy: Success in a World Without Growth“ untermauert viele Thesen, die während des Salons aufgestellt wurden.

Petra Pinzler ist Journalistin, Wirtschafts- und Politikwissenschaftlerin und arbeitet u.a. als Korrespondentin für Die Zeit. In ihrem 2011 erschienenen Buch Immer mehr ist nicht genug” setzt sie sich kritisch mit dem Wirtschaftswachstum als primärem Leitgedanken der Politik auseinander. Daneben sind die Glücksforschung und der Klimawandel wichtige Themen ihrer Recherchen. 2018 erhielt Petra Pinzler den UmweltMedienpreis der Deutschen Umwelthilfe für ihr Buch „Vier fürs Klima: Wie unsere Familie versucht, CO2 neutral zu leben“. 

Prof. Dr. Maja Göpel, Bestsellerautorin („Unsere Welt neu denken: Eine Einladung“) und ehemalige Generalsekretärin des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung für Globale Umweltveränderungen (WBGU), die anfänglich anstelle von Petra Pinzler eingeplant war, konnte aus persönlichen Gründen kurzfristig nicht am Salon teilnehmen. 

Als Kommentatoren der von den zwei Panellisten gemachten Aussagen traten Maya Hennerkes, ESG Sector Lead for Financial Intermediaries der European Bank for Reconstruction and Development (EBRD) in London, und Prof. Dr. Ernst Ulrich von Weizsäcker, Ehrenpräsident des Club of Rome, auf.

Die Gesprächsrunde fand in enger Partnerschaft mit der Deutschen Gesellschaft Club of Rome statt. Jörg Geier, der mit seinen Ehrenämtern beim Club of Rome und ANSC das Bindeglied beider Vereine darstellt und als Berater und Experte für Nachhaltigkeitsinnovationen tätig ist, moderierte den Abend.

Geier erinnert zu Beginn nochmals daran, dass der Club of Rome viele der Veränderungen, mit denen die Menschheit heute konfrontiert ist, schon früh in Szenarien abbildete: So erschien „Die Grenzen des Wachstums, der erste Bericht an den Club of Rome, bereits 1972, und eine aktuelle Veröffentlichung vom September 2020 könnte als Leitfaden für diesen Salon dienen: „Wellbeing Economy im 21. Jahrhundert: Der Weg zu Erholung, Erneuerung und Nachhaltigkeit“ (engl. Originaltitel: „21st Century Wellbeing Economics: The Road to Recovery, Renewal & Resilience“). Eine Wirtschaft zum Wohle der Gesellschaft im Sinne der Nachhaltigkeit und des Umweltschutzes erfordere andere Bemessungsgrundlagen für Wachstum und Wohlstand, unterstreicht Geier. Wirtschaft und Politik sollten Hand in Hand gehen und einen Plan erarbeiten, wie so eine Wellbeing-Ökonomie gestaltet werden könne, um nicht nur gesamtwirtschaftlich, sondern auch im persönlichen Alltag der Menschen positive Effekte zu erzielen. Jörg Geier sieht hier insbesondere die Politik bereits auf einem gutem Weg und verweist zum einen auf die im September 2015 erschienene „Agenda 2030 der Vereinten Nationen, die 17 nachhaltige Entwicklungsziele festlegt, um eine bessere Welt für alle zu garantieren, und zum anderen auf das Strategiepapier der Bundesregierung „Gut leben in Deutschland (2017), das zwölf Dimensionen von Lebensqualität aufzeichnet. Bevor Geier das Wort an Lorenzo Fioramonti übergibt, verdeutlicht er, dass die Coronakrise uns vor Augen geführt hat, wie wichtig ein gesundes Leben ist, ohne sich ständig Sorgen um den Job oder die persönliche Sicherheit machen zu müssen.

„Die COVID-19-Krise hat es uns ermöglicht, einmal innezuhalten und zu reflektieren, was wir anders machen sollten.“ (Jörg Geier)

Der italienische Politiker greift in seinen einführenden Worten das Motto des Abends nochmals auf: Eine Wellbeing-Economy sollte gerade jetzt, inmitten der Pandemie, der Mittelpunkt der Diskussion sein: Wie können wir eine Wirtschaft und Gesellschaft aufbauen, in der ein universeller Begriff des Wohlbefindens die Antriebsfeder allen Fortschrittes ist? Für Lorenzo Fioramonti ist die Antwort nicht nur simpel, sondern beschreibt auch eine Selbstverständlichkeit: Wir brauchen ein Wirtschaftssystem, in welchem die Gesundheit der Menschen und der Umwelt das primäre Ziel sein sollte. Unser gegenwärtiges System sei jedoch genau das Gegenteil: Es gehe fast ausschließlich um Profit – auf Kosten der Natur.

„Es ist eine simple, aber revolutionäre Idee, die Gesundheit der Menschen und der Natur zum zentralen Punkt der Debatte zu machen.“ (Lorenzo Fioramonti)

Die COVID-19-Pandemie sieht er als unmittelbare Folge eines aus dem Ruder gelaufenen, profitorientierten Wirtschaftssystems: Der Raubbau an der Natur, das immer weitere Vordringen des Menschen in bisher geschützte Ökosysteme und die damit einhergehende Etablierung von biologischen Monokulturen begünstige die Entstehung von Pathogenen, über die der Mensch dann keine Kontrolle mehr hat. Lorenzo Fioramonti kritisiert, dass unser Wirtschaftssystem zwar sehr viel Geld erzeugt, dies jedoch einhergeht mit fatalen Folgen für arme Länder, hungernde Menschen und die bereits belastete Biosphäre. Die zunehmende Wasserknappheit und der Klimawandel seien zwei prominente Beispiele einer Entwicklung, die schon bald in eine ökonomische und ökologische Katastrophe führen werde.

„Wir Menschen müssen uns entscheiden: Wollen wir im Wohlstand leben oder uns selbst vernichten?“ (Lorenzo Fioramonti)

Lorenzo Fioramonti greift den oft gehörten Einwand auf, ob ein wie auch immer geartetes Wohlbefinden nicht auch im Auge des Betrachters liege. Natürlich gäbe es dazu verschiedene kulturelle Ansätze, aber der aktuelle Forschungsstand zu vielen unterschiedlichen Gesellschaftssystemen habe gezeigt, dass der Begriff oder der Zustand des „Wellbeing“ von zwei wichtigen Kernpunkten abhängt: einer gesunden menschlichen Partnerschaft und einer gesunden menschlichen Beziehung zur Umwelt. Die Frage, was dies in der Praxis bedeutet, bringt Fioramonti zu einem seiner Meinung nach essentiellen Punkt in der Diskussion: Wir müssen unser Konzept des Wirtschaftswachstums hinterfragen – und damit zwangsläufig erneuern.

„Ein Wirtschaftssystem darf nicht auf Kosten der Natur wachsen. Wenn wir den Wald zerstören, um Holz zu gewinnen, schaffen wir damit wirklich Werte?“ (Lorenzo Fioramonti)

Ein Kernpunkt dieser Problematik ist für den Wissenschaftler Fioramonti auch die Frage nach Werten – und wie wir diese bemessen. Der Raubbau an vielen Wäldern auf diesem Planeten sei exemplarisch dafür: Man nimmt etwas, das man nicht als wertvoll betrachtet, um es in etwas zu verwandeln, das kurzfristig Gewinn bringt. Ein weiteres Beispiel, das Fioramonti gerne seinen Studenten verschiedener Universitäten näherbringt, soll diese Problematik verdeutlichen: Natürlich könnte man seine eigenen Organe für teures Geld verkaufen. Aber wäre das wirklich ein gutes Geschäft? Eine Wellbeing-Economy bedeute für die etablierte Wirtschaft einen Paradigmenwechsel, denn der Begriff des Profits müsse neu überdacht werden: Profit müsse ECHTER Profit sein, der auch längerfristig keine Schäden verursacht, die am Ende die gesamte Gesellschaft etwas kosten. Sollte dies dennoch der Fall sein, dann müssten die Unternehmen sicherstellen, dass sie diese Kosten – in der Fachsprache auch Externalitäten genannt – auch zurückzahlen. Genau das geschieht laut Lorenzo Fioramonti jedoch nicht: Oft steht das viele Geld, das manche Unternehmen erwirtschaften, in keinem Verhältnis zu den noch viel höheren Kosten, die dem Gemeinwohl durch die Schäden entstehen, welche diese Unternehmen verursachen. Am Ende zahlen laut Fioramonti dann andere für diese Schäden – und das auf vielen Ebenen: durch höhere Steuern, Krankheiten oder durch die negativen Folgen der Migration. Lorenzo Fioramonti bemängelt, dass, um ein gesundes Wirtschaftssystem zu erhalten, eine wichtige Frage immer noch viel zu wenig an Universitäten gestellt wird: „Wie kann ein Unternehmen Gewinne erwirtschaften mit dem geringsten Schaden für Mensch und Umwelt?“ Um dafür eine effektive Strategie zu entwickeln, muss laut Fioramaonti an einer essentiellen Stellschraube gedreht werden: Wir müssen Wirtschaftswachstum anders und korrekter messen.

„Wer nur den Profit misst und nicht die Folgen, begibt sich auf den falschen Pfad.“ (Lorenzo Fioramonti)

Als Politiker hat Lorenzo Fioramonti die Erfahrung gemacht, dass viele Unternehmer und auch Politiker steigende Börsenkurse mit steigendem Wohlstand gleichsetzen. Zu lange haben viele Länder den Fokus alleine auf das Bruttoinlandsprodukt gelegt. Fragen zu Umweltverschmutzung, Problemen im Gesundheitssektor oder in der Bildung wurden zu lange ignoriert. Wer wiedergewählt werden wollte, setzte ausschließlich auf ein steigendes Wirtschaftswachstum. Doch dann, so Fioramanti, kam die COVID-19-Pandemie und mit ihr die schmerzliche Erkenntnis: Ein gutes Gesundheitssystem ist fundamental für eine gesunde Wirtschaft. Und deshalb müsse eine neue Form des Wachstums gefunden werden, die nicht nur auf das Bruttoinlandsprodukt fokussiert sei. Fioramonti ist sich jedoch sicher, dass dieser Wandel möglich ist: Noch nie zuvor standen weltweit so große Datenmengen zur Verfügung. Würden wir alle Quellen und die entsprechenden Analysemethoden effektiver nutzen, um optimale synergistische Effekte zu erzielen, wäre es relativ einfach, ein besseres System der Bemessungsgrundlagen zu schaffen.

„Die Zeit, in der das Bruttoinlandsprodukt das Maß aller Dinge war, ist vorbei! Ein großes Problem ist, dass wichtige Daten haben, diese jedoch nicht nutzen.“ (Lorenzo Fioramonti)

Petra Pinzler stellte ebenfalls fest, dass Wachstum noch immer das Hauptkriterium in der Wohlstandsdebatte sei. Die Schwierigkeit: Es ist weitaus leichter, Profite zu messen als die weitaus komplexeren Indikatoren „Wohlstand“ oder „Wohlbefinden“. In diesem Sektor gäbe es zwar auch leicht messbare Kennzahlen, die aber nur einen Teilaspekt beschreiben würden. So sei es z.B. viel leichter für einen Politiker zu sagen: „Ich habe die Sozialausgaben erhöht“ als zu bemerken: „Ich habe das Glück der Menschen erhöht“. Ein gewisser Fortschritt ist für Pinzler jedoch erkennbar, insbesondere, wenn sie auf die globale Finanzkrise blickt, die 2008 ihren Anfang nahm: Damals lag der allgemeine Fokus fast ausschließlich auf dem leicht messbaren dramatischen Absturz des Bruttoinlandproduktes, auf den viele Staaten mit Kürzungen der Bildungs-, Sozial- und Gesundheitsausgaben reagierten oder sogar von der EU dazu gezwungen wurden. Seit damals habe sich, wenn auch in kleinen Schritten, durchaus eine differenziertere Sichtweise auf das Bruttoinlandsprodukt als alleinige Messlatte für eine gesunde Gesellschaft etabliert – vielleicht auch, weil die Politik dazugelernt habe. 

„Wachstum, Coronazahlen, Börsenkurse: Wir lieben es, Dinge zu messen“ (Petra Pinzler)

Dann kam Corona und habe noch einmal verdeutlicht, dass eine „Wellbeing-Society“ nicht nur auf wirtschaftlichem Wachstum basiert, sondern auch auf einem guten Gesundheitssystem, welches sich wiederum nicht nur an den freien Betten der Intensivstationen festmachen lasse, sondern auch an den Pflegekräften, die dort Patienten betreuen. Im Verlauf der Corona-Pandemie sei vielen Menschen bewusst geworden, dass wir als Gesellschaft eng zusammenarbeiten müssen, um gesund aus dieser Krise zu kommen. Und dabei ginge es nicht nur um das Gesundheitswesen, sondern auch um Aspekte wie Bildung. Betrachtet Petra Pinzler die Finanz- und die Corona-Krise, sieht sie eine wichtige Gemeinsamkeit: In beiden globalen Krisen fühlten viele Menschen: Es geht nicht in die richtige Richtung – und jetzt ist die Chance, etwas zum Besseren zu verändern. 

In seinen Nachfragen an die zwei Wellbeing-Experten geht Jörg Geier vor allem auf die praktische Dimension des Dialogs ein: Welche Bedeutung haben die geforderten Veränderungen für Unternehmer und welche Rahmenbedingungen müssen geschaffen werden, damit die Wirtschaft ins Handeln kommt? Im Laufe des Abends gehen die Panellisten verstärkt darauf ein.

Die aus London zugeschaltete Maya Hennerkes sieht den Finanzsektor als Rückgrat der gesamten Wirtschaft und damit in einer Schlüsselposition: Um eine Wellbeing-Economy zu gestalten, sei es unabdingbar, auch die Finanzbranche umzuwandeln. Dabei sollte das Ziel sein, einen Finanzsektor zu gestalten, der die Fähigkeit besitzt, ein gesünderes Wirtschaftssystem zu sponsern. Damit dies gelinge, bedürfe es klarer Entscheidungen, wohin wir verfügbares Kapital und Finanzierungen lenken wollen.

“Die Idee einer Wellbeing-Society ist auf der einen Seite eine kollektive Mission, auf der anderen Seite aber auch eine sehr individuelle Angelegenheit.” (Maya Hennerkes)

Bei all diesen Entscheidungen, egal ob sie von großer oder kleiner Tragweite sind, gelte es, mögliche Folgen für die Umwelt und die Sozialsysteme zu berücksichtigen, so Maya Hennerkes. Zudem benötige eine erfolgreiche Transformation des Finanzsektors eine große Vielfalt an Meinungen, Entscheidungsfindungsprozessen und Unternehmensgrundsätzen.

„Wir müssen umweltrelevante und soziale Bedürfnisse bei allen finanziellen Entscheidungen berücksichtigen.“ (Maya Hennerkes)

Für die Finanzexpertin ist nämlich die Grundvoraussetzung für eine funktionierende Wellbeing-Economy, dass die verschiedenen Ideen eines solchen Konzeptes verinnerlicht und verstanden werden. Das sei jedoch nur möglich, wenn man Entscheidungsträger aller Couleur in diesen Prozess einbindet. Die Kombination aus Thinktanks mit ganz unterschiedlichen Ansätzen und einem starken finanziellen Motor hinter der Wirtschaft ist laut Maya Hennerkes die optimale Strategie, um nach der Krise mit dem Motto „build back better“ unsere Zukunft wirklich besser zu gestalten – statt einfach wieder zum „business as usual“ zurückzukehren.

Die Auftritte des deutschen Pop-Duos Frida Gold rund um die Gesprächsrunden sind liebgewonnene Tradition und fester Bestandteil der ANSC-Salons. Wegen der aktuellen Situation streamten Alina Süggeler und Andreas „Andi“ Weizel ihre Musik diesmal live aus ihrem Bochumer Home-Studio. Die akustisch vorgetragenen Songs „Wach , „Halleluja  und „Wovon sollen wir träumen?“ rundeten mit ihren inspirierenden Texten und harmonischen Arrangements nicht nur das Thema des Abends ab, sie berührten auch die Herzen vieler Teilnehmer des Salons. Auftritte wie der von Frida Gold sind für den ANSC-Gründer und Galeristen Johann Haehling von Lanzenauer ein wertvoller Ast seiner Vision: Ihm geht es auch darum, Kunst und Musik in die wichtigen Fragen unserer Zeit mit einzubeziehen, da die Kunst genau wie die Natur frei und unabhängig von den Dogmen und Werten sei, die unser System geschaffen hat.

„Kunst kann ein Motor des Wandels sein.“ (Johann Haehling von Lanzenauer)

Auch Jörg Geier zeigt sich beeindruckt von Frida Golds Musik und weist im Gespräch mit Alina und Andi darauf hin, dass ihre Songs direkt oder indirekt verschiedene Aspekte der Suche nach Wohlbefinden und Glück thematisieren. Alina Süggeler stimmte dem zu und sieht ihre Aufgabe als Künstlerin unter anderem darin, den Zeitgeist zu fühlen und mit ihren Songs einen sicheren Raum zu erschaffen, der es dem Publikum erlaubt, sich selbst zu fühlen und mit sich selbst konfrontiert zu werden. In der aktuellen Situation wünscht sich Alina als Künstlerin nicht nur, dass sie einigermaßen sicher durch die Krise kommt, sondern auch, dass der wichtige Beitrag, den bildende Künstler für das Wohlbefinden der Menschen leisten, von Politik und Gesellschaft stärker anerkannt und geschätzt werden würde. 

„Wir brauchen neue Strategien, den Menschen das Gefühl zu geben, dass sie ein wichtiger und aktiver Teil der Gesellschaft sind.“ (Alina Süggeler, Frida Gold)

Andreas Weizel berichtet, dass die Pandemie für ihn als Künstler eine besondere Ausnahmesituation darstell: Zum ersten Mal seit vielen Jahren fühlt er sich quasi außerhalb der Gesellschaft stehend, da seine Möglichkeiten etwas beizutragen, seit Monaten stark eingeschränkt sind. Dabei sei das Bewusstsein, einen Wert und eine Rolle in dieser Gesellschaft zu haben, nicht nur für Künstler wichtig, sondern für alle Menschen. 

„Jeder spielt eine Rolle und jeder ist ein Teil der Lösung.“ (Andi Weizel, Frida Gold)

Im weiteren Verlauf des Abends kristallisiert sich die Thematik des Wachstums immer stärker als ein zentraler Punkt der Wellbeing-Economy heraus.

Petra Pinzler stellt in den Raum, dass die Debatte über Wachstum neu geführt werden sollte. Im Zuge der zunehmenden Kapitalismuskritik war es lange Commonsense, dass Wachstum per se immer etwas Schlechtes sei, doch dem möchte sich die Journalistin nicht unbedingt anschließen. Für Petra Pinzler geht es bei der notwendigen Definition nicht nur um immer „größer und größer und größer“, sie sieht Wachstum eher als einen natürlichen Kreislauf, zu dem auch Schrumpfungsprozesse gehören. Die Natur sei hier ein Vorbild, denn auch Pflanzen und Bäume wachsen, gehen ein und wachsen wieder. Petra Pinzler gefällt die Idee einer zirkulären Wirtschaft und sie betont, dass es weitaus wichtiger sei, WAS wir zum Wachsen bringen. Dieses ökonomisch immer relevantere Konzept der Unterscheidung zwischen qualitativem und quantitativem Wachstum greift Lorenzo Fioramonti auf: 

Der Politiker weist darauf hin, dass die Umwandlung unseres Wirtschaftssystems in ein Wellbeing-System für manche Industriesektoren eine schmerzvolle Veränderung darstellen würde. Sicher würden einige Unternehmen vom Markt verschwinden, wenn sich unsere Gewohnheiten und unsere Ansprüche änderten. Doch gerade diese Wirtschaftszweige haben seiner Meinung nach ohnehin keine Zukunft mehr, wie etwa die Produktion von Autos mit Verbrennungsmotoren. An ihre Stelle würden neue Sparten treten, die die Bedürfnisse einer Wellbeing-Society besser bedienten. Deshalb müsse man in Firmen mit Zukunft und Visionen investieren, die Jobs mit höherer Lebensqualität anbieten. Lorenzo ist sich sicher: Es geht nicht um das „mehr“, sondern um das „besser“: Ein Wirtschaftssystem sollte nicht darauf aus sein, ständig mehr und mehr Güter zu produzieren, sondern bessere und nachhaltigere Güter. Auf die Frage, was Politiker bzw. Regierungen tun könnten, um Unternehmen zu einem Umdenken und der daraus folgenden notwendigen Transformation zu bewegen, schlägt Lorenzo Fioramonti zwei Strategien vor: Zum einen müsse sich der gesellschaftliche Wertekanon wandeln, damit nicht diejenigen Unternehmen als besonders attraktiv erscheinen, die schnelle Gewinne machen, sondern diejenigen, die auf Nachhaltigkeit und Umweltschutz setzen. So könnten etwa Banken einem Start-up günstigere Kredite anbieten, wenn es ein gutes Nachhaltigkeitskonzept in seinen Unternehmensrichtlinien verankert. Würden gerade alteingesessene Unternehmen ein neues Selbstverständnis entwickeln, das nicht ausschließlich auf Wachstum und Gewinne abzielt, sondern auf das Wohl der gesamten Gesellschaft, wären sie Fioramonti zufolge auch weitaus attraktiver für viele junge Nachwuchskräfte, die so einen positiven Wertewandel längst vollzogen hätten. Als Politiker weiß er aber natürlich auch, dass es ohne gewisse staatliche Regulierungen nicht funktionieren wird – womit er bei der zweiten Strategie ankommt.

„Wenn wir die Regeln des Spiels nicht ändern, werden wir auch das Spiel nicht ändern!“ (Lorenzo Fioramonti)

Warum sollte ein Geschäftsführer mit nachhaltigen Umweltkonzepten den Umsatz seines Unternehmens schmälern, wenn dies nicht gesetzlich vorgeschrieben ist? Warum sollte ein Konzern wesentlich höhere Steuern in dem Land zahlen, in dem er die meisten Gewinne erzielt, wenn dies nicht gesetzlich vorgeschrieben ist? Wer nicht den maximal möglichen Profit generiert, wird gefeuert – so läuft laut Fioramonti das Spiel im klassischen System. Neben Appellen an die Eigenverantwortung der Unternehmen bedarf es deshalb auch klarer gesetzlicher Vorgaben. Am Beispiel von Neuseeland erläutert Lorenzo Fioramonti, dass es durchaus funktionieren kann, die Regeln des Spiels zu ändern: So kündigte im Januar 2019 die neuseeländische Premierministerin Jacinda Ardern auf dem World Economic Forum an, dass ihr Land in seiner Finanzpolitik einen neuen Ansatz verfolgen wolle, bei dem es nicht nur um ökonomischen Wohlstand, sondern auch um das gesellschaftliche Wohlbefinden ginge und verabschiedete tatsächlich im öffentlichen Haushalt von Neuseeland ein Budget, das verstärkt auch ökologische und soziale Belange berücksichtigte. Die Ministerin wurde für ihren Mut nicht von der Presse verteufelt, sondern ganz im Gegenteil: Sie wurde dafür gefeiert und 2020 im Amt bestätigt! Fioramonti betont, dass erfolgreiche Innovationen wie in Neuseeland einen positiven Kaskadeneffekt auslösen könnten. Ob Regierungen oder Unternehmen, es ginge darum, Allianzen zu bilden und eine gemeinsame Sprache zu sprechen. Nur so könne man global gehört werden und einen Wandel erreichen.

Petra Pinzler sieht diesen Erfolg als Beweis, dass Politikerinnen durchaus offen für neue Konzepte sind und stellt sich weniger die Frage, was wichtiger sei: Politikerinnen, die einen Wandel wollen und Menschen, die ihrem Aufruf folgen – oder Menschen, die für eine bessere Welt auf die Straße gehen und Politiker, die deren Visionen folgen. Vielmehr sei es so, dass ein Land beides braucht. Als Journalistin verweist sie dabei auch auf die Aufgabe der Medien, die zuweilen abstrakte Thematik einer Wellbeing-Economy und die daraus resultierenden, für manche unpopulären Entscheidungen verständlich und optimistisch zu transportieren. Leider vermisst Petra Pinzler bei einigen ihrer Kollegen, aber auch bei manchen Politikern, die für einen Wandel nötigen positiven Denkansätze. So sei es eine wichtige Aufgabe für Politik, Wissenschaft und Medien, den Menschen die Angst vor einem Wandel zu nehmen und ihnen zu vermitteln, dass sie Veränderungen akzeptieren sollten, auch wenn sich diese Veränderungen erst auf längere Sicht als positiv erweisen könnten. 

„Warum trauen sich Politiker so selten zu träumen?“ (Petra Pinzler)

Die neuseeländische Ministerin ist nicht nur Vorreiterin einer Wellbeing-Society, sie führte ihr Land auch gut durch die Corona-Pandemie. Petra Pinzler fällt in diesem Zusammenhang auf, dass es viele Frauen seien, die in dieser Krise Führungsstärke gezeigt hätten. Hierzu zählten z.B. auch die taiwanische Regierungschefin Tsai Ing-wen. Schaue man außerdem auf die Verkehrspolitik der großen Metropolen, seien es ebenfalls oft Frauen, die hier neue Wege einschlagen würden. Petra Pinzler merkt an, dass häufig Bürgermeisterinnen die Verkehrsberuhigung vorantrieben, etwa in Paris, Barcelona oder Amsterdam. Es sei jedoch ein Klischee, dass vor allem Männer immer größere Autos möchten, aber ein Effekt hätte sich in den letzten Jahrzehnten gezeigt: Je breiter die Straßen, desto größer die Autos. Dem müsse man entgegensetzen: Je schmaler die Fahrbahnen, desto mehr Platz für Spielplätze und Fahrradwege! Denn Kinder, Frauen und ältere Menschen würden sich anders in der Stadt fortbewegen. Gibt man ihnen mehr Raum, schafft man auch mehr Diversität und damit mehr Lebensqualität. Zusammenfassend stellt sich für Petra Pinzler hier die Frage, ob das weibliche Geschlecht vielleicht erfolgreicher dabei ist, bei der Suche nach einer gerechteren Welt die richtigen Wege zu finden. Diesem Gedanken möchte sich Lorenzo Fioramonti gerne anschließen, da für ihn das ungesunde, veraltete Konzept des reinen Wachstums, das noch fast überall auf der Welt sein Unwesen treibt, in gewisser Weise auch eine sehr maskuline Idee ist. Männer sehen sich laut Fioramonti ständig in einem Wettstreit, dabei sei Zusammenarbeit viel wichtiger, da sie zu besseren Resultaten führt. Petra Pinzler erinnert an diesem Punkt an die Geschichte von Monopoly: Elizabeth „Lizzie“ Magie, die Erfinderin des Brettspiels, entwickelte damals zwei ganz unterschiedliche Varianten. Neben der populären, eher „kapitalistisch“ ausgerichteten Monopoly-Version gab es auch eine alternative Variante, bei der die meisten Mitspieler im Spielverlauf immer wohlhabender wurden, da sie miteinander kooperierten.

„Innovation braucht Zusammenarbeit!“ (Petra Pinzler)

Diesem Gedanken schloss sich auch Ernst Ulrich von Weizsäcker an. Der ehemalige Politiker, Universitätspräsident und Ehrenpräsident des Club of Rome, der dem Dialog wie Maya Hennerkes per Zoom zugeschaltet war, kritisierte, dass der Zeitgeist des ultimativen Wettbewerbs die Menschen unglücklich mache. Als Biologe hält von Weizäcker die gängigen Interpretationen der Lehren von Charles Darwin für falsch. Für ihn ist der Sozialdarwinismus ein biologisches Missverständnis: In der Natur gewinne eben nicht immer nur der Stärkere, sondern in der Evolutionsgeschichte gab es auch ganze Populationen, die sich erfolgreich und divers entwickeln konnten, obwohl oder gerade weil ihre Individuen ohne Konkurrenz und Wettbewerb in Koexistenz lebten.

„Die Symbiose ist viel angenehmer als der Konkurrenzkampf.“ (Ernst Ulrich von Weizsäcker)

Von Weizsäcker setzte fort, dass die super-kompetitive Mentalität, die in unseren Gesellschaften dominant geworden sei, bereits vom Kindergartenalter an forciert würde. Von uns würde erwartet, dass wir ständig mehr leisten und uns mit anderen vergleichen. Das zerstöre das Wohlbefinden!

Ernst Ulrich von Weizsäckers vollständigen Beitrag zum Salon finden Sie hier

Nach zwei Stunden regen Austausches voller inspirierender Ideen bittet Jörg Geier seine beiden Gesprächspartner noch um ein paar abschließende Worte, die sie den Zuschauern mit auf den Weg geben möchten:

Lorenzo Fioramonti sieht das größte Potential in der Jugend und ihrem Veränderungswillen: „Wir müssen in die Schulen investieren. Schulen sind die Laboratorien des Wohlbefindens. Um es mit Nelson Mandela zu sagen: Bildung ist die wirksamste Waffe, um die Welt zu verändern.“

Petra Pinzler möchte die Politik wachrütteln: „Wir brauchen Politiker, die die richtigen Spielregeln auf den Weg bringen.“ Sie empfiehlt jedem einzelnen von uns: „Verhaltet euch richtig und wählt die richtigen Parteien!“ und schließt mit einem Zitat von Martin Luther King ab: „Wir tun das nicht, weil wir denken, wir werden gewinnen. Wir tun das, weil wir denken, dass es richtig ist.“